Kasseler Straße 26 (Warburg)

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Ansicht von Nordwesten
Fensterdetails

Das Haus Kasseler Straße 26 ist eine um 1910 entstandene Jugendstilvilla in Warburg (Nordrhein-Westfalen). Es steht unter Denkmalschutz.

Architektur

Die in den Formen des späten Jugendstils und unter Einfluss englischer Landhaus-Architektur erbaute Villa besteht aus einem zweigeschossigen Hauptbaukörper mit Anbauten und einem hohen Walmdach. Zur Straße ist ihm ein nur eingeschossiger Flügel mit weit heruntergezogenem Mansarddach vorgelagert. Dieser Flügel hat im Erdgeschoss zwei in Werkstein gearbeitete halbellyptische Fenstererker (Bay Windows), zwischen denen sich eine kleine Balkonnische befindet. Der darüberliegende verputzte Giebel kragt zweimal vor und hat im Obergeschoss ebenfalls Fenstererker, die hier jedoch etwas kleiner und in Holz gearbeitet sind. An der Westseite befindet sich ein zweiter Giebelanbau mit Eingangsloggia und Treppenhaus. Sein Dach ist geschwungen und noch tiefer als am Straßengiebel heruntergezogen. Die Giebelspitze trägt hier ein leicht vorkragendes Sichtfachwerk.

Durch seine vielfältigen Details wie dem Bruchsteinsockel mit spitzgratigen Ausfugungen, unterschiedlichen Einfassungen der Fenster in Werkstein, Holz und Putz, den mit Symbolen versehenen kreisförmigen Zierputzelementen im Straßengiebel und den differenziert gestalteten Holzsprossenfenstern mit zum Teil farbigen Bleiverglasungen zeigt das Haus eine vielfältige, aber dennoch geschlossene Gestaltung. Hervorzuheben sind die qualitätvollen Verzierungen der straßenseitigen Erdgeschossfenster mit figürlichen Darstellungen der vier Jahreszeiten durch arbeitende Personen und geometrische Reliefs in den Stürzen.

Der hohe gestalterische Aufwand setzt sich im Inneren fort, unter anderem in Form von Wandvertäfelungen in Vestibül und Treppenhaus, Stuckverzierungen an den Decken im Salon und Wohnraum und noch original erhaltene Waschbecken im Ankleideraum im Obergeschoss.

Geschichte

Bauherren und erste Bewohner des Hauses waren Hugo Berg (1879–1943) und seine Frau Mary, geb. May (1883–1944). Beide stammten aus vermögenden Verhältnissen.

Anzeige Block & Berg, Warburger Kreiskalender 1921[1]

Hugos Vater Max Berg (1851–1919) stammte aus einer seit spätestens 1722 in Warburg lebenden Kaufmannsfamilie. Ihr Stammhaus war das Goldschmidt-Haus in der Warburger Altstadt, Joseph-Kohlschein-Straße 28. Er hatte Fanny Block, eine Schwester des Kaufmanns Siegmund Block (1860–1939) geheiratet, wohnte mit seiner Familie im Haus Kasseler Straße 4 und war Mitinhaber des in Warburg führenden Textilkaufhauses Block & Berg in der Hauptstraße 20-22. Hugos 1873 nach Brüssel ausgewanderter Onkel Sally Berg (1857–1924) gehörte um die Jahrhundertwende zu den führenden Modeschöpfern der Zeit und war an mehreren Textilkaufhäusern und Unternehmen in Brüssel, Amsterdam, Wien und Paris u. a. beteiligt. Unter dem Einfluss der Familie wurde auch Hugo Textilkaufmann und 1919 Teilhaber von Block & Berg. Mary May (1883–1944) war eine Tochter des aus Herlinghausen stammenden Kaufmanns Israel May (1840–1920), der auf dem Anwesen Kasseler Straße 13 die bereits 1820 gegründete Getreidegroßhandlung S. May betrieb.

Beim Bau der Villa, deren Grundstück in der Nähe beider Elternhäuser lag, waren Hugo Berg 31 und seine Frau 27 Jahre alt. Sie heirateten am 28. Januar 1910 und bekamen zwei Kinder: Richard Werner (* 1911), gefolgt von Berta Lilly (* 1914), die in dem Hause mit seinem großen, bis an den Warburger Mühlengraben reichenden Hang-Garten aufwuchsen. Im Ersten Weltkrieg wurde Hugo Berg zur Kavallerie eingezogen. 1925 ging infolge der Inflation die Getreidehandlung S. May in Konkurs.

Ab 1933 kam durch den von den Nationalsozialisten organisierten Judenboykott auch Block & Berg in Schwierigkeiten. 1934 verkaufte Hugo Berg die Villa an den Arzt Walter Czerwionka.[2] Block & Berg wurde 1936 an die die Gebrüder F. und A. Schnorbus, Hallenberg, verkauft. Hugos Mitgeschäftsführer Karl Block (* 1896) wanderte am 15. April 1937 zunächst nach Mailand und später nach Lima in Peru aus, wo er wieder ein Kaufhaus gründen konnte. Am 29. März 1939 emigrierte auch die Familie Hugo Berg und zog zunächst zur Verwandtschaft nach Amsterdam, wo sie in der Ruysdaelstraat 124 wohnte[3] und die Eltern im dortigen von Sally Berg gegründeten Modehaus Hirsch Arbeit fanden. 1941, ein Jahr nach dem Überfall auf die Niederlande, Belgien und Luxemburg, heiratete Berta Lilly einen anderen deutschen Flüchtling, Alfred Davids aus Darfeld, mit dem sie im Herbst 1942 einen Sohn, Harry, bekam. Als einige Monate später das junge Paar verhaftet wurde, konnte es jedoch noch kurz zuvor ihr Kind Harry in Widerstandkreisen verstecken. Berta Lilly und Alfred Davids wurden in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und Anfang April 1943 ermordet. Wenig später wurden auch die anderen Familienmitglieder deportiert. Hugo Berg starb am 24. August 1943 im Durchgangslager Westerbork. Mary Berg und ihr Sohn Richard Werner wurden in das KZ Auschwitz gebracht und dort am 14. Oktober 1944 ermordet. Nur Harry Davids überlebte. Er wurde in Schleppkähnen nach Friesland gebracht, dort von der Familie Berend und Jeltje Bakker in Engwierum aufgenommen und als deren fünftes Kind ausgegeben. 1947 wurde Harry von Überlebenden seiner väterlichen Familie gefunden und schließlich von seinem nach Südafrika emigrierten Onkel Paul Davids adoptiert. Er zog später in die USA, wo er unter anderem in San Diego als Buchhalter arbeitete. Heute lebt er in Los Angeles, Kalifornien und arbeitet ehrenamtlich für das Los Angeles Museum of the Holocaust.[4][5]

Die Villa in Warburg hat seit 1934 mehrfach den Eigentümer gewechselt. Sie wurde ab den 1980er Jahren schrittweise stilgerecht saniert.

Literatur

  • Hermann Hermes: Deportationsziel Riga. Schicksale Warburger Juden. Selbstverlag, Warburg 1982.
  • Gotthardt Kießling et al.: Stadt Warburg. (= Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Denkmäler in Westfalen, Kreis Höxter, Band 1.1.) (hrsg. vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Hansestadt Warburg) Michael Imhof Verlag, Petersberg 2015, S. 270 ff.
  • Leslee Komako: Hidden in plain sight. In: Jewish Journal vom 23. April 2014.
  • Walter Seulen: Baudenkmäler in der Stadt Warburg. (= Warburger Schriften, Nr. 21.) Warburg ca. 1996.
  • Museumsverein Warburg (Hrsg.): Erinnerungen 2011. Die Bürger jüdischen Glaubens lebten mitten unter uns. Warburg 2011.
Commons: Kasseler Straße 26 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Warburger Kreiskalender 1921, hrg. vom Kreis Warburg, bearb. von Heinrich Bachmann, Warburg 1920
  2. Grundbuch Warburg, Bd. 16 Bl. 177 vom 31. März 1934
  3. www.joodsmonument.nl
  4. Seite bei MyHeritage zu Alfred Davids und Berta Lilly Davids mit Abbildung eines Gedenksteines in Sobibor
  5. Leslee Komako 2014