Mittellatein

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Seite mit mittellateinischem Text aus den Carmina Cantabrigiensia (Cambridge University Library, Gg. 5. 35), 11. Jhd.

Unter dem Begriff Mittellatein oder mittellateinische Sprache werden die vielfältigen Formen der lateinischen Sprache des europäischen Mittelalters (etwa 6. bis 15. Jahrhundert) zusammengefasst. Eine genaue Abgrenzung einerseits vom vorausgehenden Spätlatein (Latein der Spätantike) und andererseits vom in der Renaissance aufkommenden Neulatein der Humanisten ist nicht möglich.

Der Begriff ist eine Analogiebildung zu Mittelhochdeutsch. Die lateinische Literatur des Mittelalters wird als mittellateinische Literatur bezeichnet, die lateinische Philologie des Mittelalters als mittellateinische Philologie oder kurz Mittellatein. Fachleute in dieser Disziplin werden als Mittellateiner bezeichnet.

Ausgehend von der Literatursprache der spätantiken Kaiserzeit, der Sprache der Jurisprudenz und der Kirchenväter, zuweilen, jedoch keineswegs durchgängig, beeinflusst von den romanischen Sprachen oder der jeweiligen Muttersprache des Autors, aber entgegen verbreiteten Vorurteilen („Küchenlatein“) immer wieder auch im Kontakt mit der antiken Literatur der klassischen Periode, insbesondere der Dichtung, entstand ein äußerst heterogenes Sprachmaterial, das die ganze Spannbreite von umgangssprachlicher, kolloquialer, pragmatischer Diktion bis zu hochrhetorischer oder dichterischer Stilisierung auf höchstem Niveau umfasst und in seinen Spitzenerzeugnissen den Vergleich mit der antiken, viel stärker durch die Selektion des Überlieferungsprozesses gefilterten Literaturproduktion genauso wenig zu scheuen braucht wie den mit der gleichzeitigen oder späteren volkssprachigen Literaturproduktion.

Prüfeninger Weiheinschrift von 1119

Als sich die Schriftsteller zu Beginn des Mittelalters mit Antike und Christentum befassten, stand ihnen in der Romania, also in dem Gebiet, in dem sich das Latein als Umgangssprache hatte festsetzen können, nur das Latein als ausgebildete Schrift- und Buchsprache zur Verfügung; die romanischen Buchliteraturen sollten sich erst im späteren Mittelalter (ca. ab 12./13. Jh.) herausbilden. Auch die Germania vermochte mit keiner geeigneteren Schriftsprache aufzuwarten, als es das Latein war, zumal die germanischen Sprachen eine von der Mittelmeerwelt ganz abweichende Kultur und (meist mündliche) Überlieferung entwickelt hatten. Da außerdem der Geistliche, der damals zugleich der Schreibende war, täglich von Berufs wegen mündlich und schriftlich mit jenem Latein umging, das er als die Sprache der Bibel, ihrer Exegese, der christlichen Dogmatik und der Liturgie vorfand, lag es nahe, dass man diese Sprache als Schriftsprache übernahm.

Dieses Mittellatein entstand aus der spätantiken Latinität.[1] Es unterscheidet sich deshalb in zahlreichen Punkten vom klassischen Latein. Die Abweichungen von der klassischen Norm haben verschiedene Ursachen:

  • Neben dem Latein als Schrift- und Bildungssprache haben sich in der Romania allmählich verschiedene Volkssprachen entwickelt, die alle Weiterentwicklungen des sogenannten Vulgärlateins sind. Jeder Verfasser von Texten lässt nun Elemente der eigenen Muttersprache in seine Schriftsprache einfließen. Dies gilt auch für Personen nicht-romanischer Zunge. Das Ausmaß solcher Einflüsse hängt natürlich in starkem Maße von der Ausbildung des jeweiligen Verfassers ab. Aufs Ganze gesehen halten sich die volkssprachlichen und vulgärlateinischen Einflüsse, zumal solche, die nicht durch das Bibellatein vermittelt sind, jedoch in Grenzen. Daher zerfällt das Mittellatein trotz einiger identifizierbarer nationaler Besonderheiten nicht in Dialekte oder Regionalsprachen, sondern weist eine horizontale Gliederung nach Stilniveau und Gattungen auf. Weniger ausgeprägt in Morphologie und Syntax, deutlich dagegen in der Wortbildung, lassen sich innerhalb des Mittellateins epochenspezifische Entwicklungen beobachten.
  • Da das Latein – trotz aller sprachlichen Kompetenz und Differenzierungsfähigkeit vieler Schriftsteller – für alle eine erlernte Sprache ist, kommt es (vor allem in der Syntax) zu Tendenzen allmählicher Vereinfachung. Typisch lateinische Erscheinungen werden, vor allem wenn sie in den romanischen Sprachen bereits aufgegeben worden sind oder in der jeweiligen Muttersprache nicht existieren, aufgegeben oder zumindest seltener benutzt, so zum Beispiel der AcI, der Ablativus absolutus und die Vielfalt und Verschachtelung der Nebensätze. Das Ausmaß, in dem diese Tendenzen beim einzelnen Autor wirksam werden, ist, z. T. epochenabhängig, sehr unterschiedlich. Auch gegenläufige Tendenzen wie Hyperurbanismen oder Manierismus sind häufig zu beobachten.
  • Die neuen sozialen und politischen Strukturen (Christentum, Feudalismus) wirken auch auf die Sprache, vor allem im Bereich des Wortschatzes, wo zahlreiche Neuschöpfungen nötig werden und viele Wörter ihr Bedeutungsspektrum erweitern.

Das Latein war durch das ganze Mittelalter hindurch eine lebendige Sprache, die in den gebildeten Schichten nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich fließend beherrscht wurde, wozu auch die aktive Beherrschung der Verse und Metrik gehörte. Alle, die über eine gewisse Bildung verfügten, waren also zweisprachig: Sie sprachen zum einen ihre jeweilige Muttersprache, zum andern Latein, das deshalb oft auch als „Vatersprache“ des Mittelalters bezeichnet wird. Wie bereits gesagt, breitete sich das Mittellatein weit über die Grenzen des Römischen Reiches aus, so bis nach Ostdeutschland, Jütland, auf die dänischen Inseln, nach Schweden, Norwegen und Island, auch in die slawischen Gebiete bis ins eigentliche Russland hinein und nach Ungarn und Finnland.

Die „Muttersprachlichkeit“ äußerte sich darin, dass man antike Wörter mit neuen Bedeutungen ausstattete, neue Ableitungen und Wörter bildete und überhaupt mit der Sprache wie mit einer Muttersprache, die sich ja auch ständig wandelt, umging, ohne allerdings je die Vorbilder der klassischen Zeit zu vergessen, denen man immer verpflichtet blieb.

Das Ende bereiteten dem Mittellatein nicht die Volkssprachen, sondern der Renaissance-Humanismus und das durch ihn hervorgerufene sogenannte Neulatein, das sich im 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts allmählich durchsetzte. Das Neulatein war durch eine strengere Orientierung am klassischen Latein gekennzeichnet. Wenige klassische Autoren, besonders Cicero und Vergil, galten als Vorbilder. Durch diese rückwärtsgewandte Normierung wurde die lebendige Sprachentwicklung gelähmt, der Gebrauch der lateinischen Sprache im Alltag wurde erschwert. Die Virtuosität einiger Autoren täuscht darüber hinweg, dass die mangelnde Flexibilität des Neulateinischen insgesamt zu einer sprachlichen Verarmung führte. So haben gerade die leidenschaftlichsten Verfechter und Liebhaber des Lateinischen, die Humanisten, durch ihren Kampf gegen das nach ihrer Ansicht barbarische Mittellatein und ihr Insistieren auf die Norm der klassischen Antike wesentlich zur Verdrängung der lateinischen Sprache beigetragen. Erst in dieser Zeit beginnt das Latein als Sprache der Bildung und Politik zu erstarren und zu „sterben“.

Merkmale des Mittellateins und Abweichungen vom klassischen Latein

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Graphie und Aussprache (Phonologie)

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Die Darstellung der Phonetik des Mittellatein stößt vor allem aus drei Gründen auf erhebliche Schwierigkeiten, erstens den Zeitraum von rund 1000 Jahren, innerhalb dessen es zu erheblichen Veränderungen kam, zweitens die räumliche Erstreckung über große Teile Europas und die damit verbundene regionale Beeinflussung durch die verschiedensten in diesem Großraum verwendeten Volkssprachen und drittens die Schwierigkeit ihrer Rekonstruktion ausschließlich aus den handschriftlichen Zeugnissen und den Interferenzen mit den Volkssprachen.[2] Eine einheitliche Aussprache konnte es unter diesen Umständen nicht geben. Trotzdem lassen sich einige allgemeingültige Aussagen machen.[3]

  • Der bereits für die antike Umgangssprache belegte phonetische Zusammenfall der Diphthonge ae mit ĕ und oe mit ē führt früh zu orthographischen Konsequenzen. Das a wird zunächst, vor allem in der Kursive, subskribiert, später entwickelt sich die sogenannte e caudata, das e mit einem Schwänzchen als Unterlänge (ę). Seit dem 12. Jh. werden æ und œ meist durch einfaches e wiedergegeben, zum Beispiel precepit für præcēpit, insule für īnsulæ, amenus für amœnus. Dazu kommen umgekehrte („hyperkorrekte“) Schreibungen wie æcclesia statt ecclēsia, fœtus statt fētus und cœlum statt cælum. Die Humanisten beleben die zeitweise verschwundene e caudata wieder.
  • Vor allem im frühmittelalterlichen Latein begegnen häufig Vertauschungen von e und i.
  • y statt i und œ findet sich nicht nur in griechischen Wörtern, sondern auch in lateinischen, zum Beispiel yems für hiems, yra für īra; vgl. den Titel Yconomica (Oeconomica) Konrads von Megenberg.
  • h wird fortgelassen oder hinzugefügt, im Anlaut, zum Beispiel iems für hiems, ora für hōra und hora für ōra, und auch sonst, zum Beispiel veit für vehit; besonders nach t, p und c, zum Beispiel thaurus für taurus, spera für sphæra, monacus für monachus, conchilium für concilium und michi für mihī.
  • Da t und c vor halbvokalischem i zusammengefallen war, werden sie auch in der Schrift sehr oft vertauscht, zum Beispiel tercius für tertius, Gretia für Græcia.
  • Konsonantengemination wird oft vereinfacht oder abundierend gesetzt, zum Beispiel litera für littera, aparere für apparēre und edifficare für ædificāre.
  • Unbequeme Konsonantengruppen werden vereinfacht, zum Beispiel salmus für psalmus, tentare für temptāre.
  • Sehr häufig und offensichtlich aus dem Vulgärlatein übernommen sind Dissimilationen, zum Beispiel pelegrinus für peregrīnus (vgl. im Deutschen Pilger; ebenso franz. pèlerin, ital. pellegrino), radus für rārus (vgl. italienisch di rado).
  • Sämtliche Vokale werden offen artikuliert. Beleg ist ein Überbleibsel im Italienischen: Das Credo im Sinne des christlichen Glaubensbekenntnisses wird mit offenem 'e' artikuliert und setzt die mittellateinische Aussprache fort. Demgegenüber spricht man die rein italienische Verbform credo („ich glaube“) mit geschlossenem 'e'.
  • Verwechslung von „normalen“ Verben und Deponentien, zum Beispiel (ad)mirare statt (ad)mīrārī, viari statt viāre (= reisen).
  • Zahlreich sind Konjugationswechsel anzutreffen, zum Beispiel aggrediri für aggredī, complectari für complectī, prohibire für prohibēre (vgl. ital. proibire), rídere für rīdēre (vgl. ital. ridere) und potebat für poterat (vgl. ital. potere).
  • Beim Futur finden sich Verwechslungen zwischen b- und e-Futur, zum Beispiel faciebo für faciam, negam für negābō.
  • Das Passiv Perfekt wird sehr oft mit fui statt sum gebildet: interfectus fuit (Aus dieser Verwendung, die im Übrigen schon im klassischen Latein vereinzelt zur Bezeichnung eines Zustandes in der Vergangenheit begegnet, hat sich das franz. passé composé bzw. das ital. passato prossimo entwickelt).
  • Zusätzliche periphrastische Verbformen: Die Umschreibung mit habēre und Partizipium Perfekt Passiv (zum Beispiel lībrōs perditōs habeō), im klassischen Latein nur zur nachdrücklichen Bezeichnung eines dauernden Zustandes verwendet, kann das gewöhnliche Perfekt Passiv oder auch Aktiv ersetzen; dicēns sum.
  • Es ist eine gewisse Unsicherheit beim Umgang mit den verschiedenen Deklinationen feststellbar, so dass Wörter manchmal von einer Deklination in die andere übergehen, zum Beispiel noctuum für noctium, īgnīs für īgnibus. Häufiger wird auch die pronominale Dativ-Endung durch ersetzt: illō für illī. Allgemein besteht die Tendenz, Wörter der u-Deklination in die o-Deklination und Wörter der e-Deklination in die ā-Deklination überzuführen, zum Beispiel senātus,-ī statt senātus,-ūs (senati steht aber schon bei Sallust), magistrātus,-ī statt magistrātus,-ūs oder māteria für māteria/māteriēs (= Bauholz), effigia für effigiēs (= Bildnis).
  • Wechsel des Genus, vor allem „Niedergang“ des Neutrums (vgl. romanische Sprachen), zum Beispiel cornus statt cornū, maris statt mare (= das Meer), fātus statt fātum, domus tuus statt domus tua, timor māgna statt timor māgnus.
  • Mit wenigen Ausnahmen kann (wie in den romanischen Sprachen) jedes Adjektiv durch Voransetzung von plūs oder magis gesteigert werden, zum Beispiel plūs/magis nobilis und manchmal auch zusammen mit dem synthetischen Komparativ plūs/magis nobilior. Seltener ist die Verwendung eines Komparativs statt des Superlativs, zum Beispiel Venit sibi in mente, ut maiorem principem, qui in mundo esset, quæreret.
  • Im Mittellateinischen wurde das Pronomen ille (illa, illud) auch als bestimmter Artikel und das Numerale ūnus (ūna, ūnum) auch als unbestimmter Artikel gebraucht.[4]
  • Die Demonstrativpronomina werden meist nicht mehr so scharf geschieden wie im klassischen Latein. So können hic, iste, ipse, īdem wie is verwendet werden.
  • Die beiden Partizipien præfātus und prædictus (eigtl. vorhergenannt) werden als neue Demonstrativpronomina oft wie ille gebraucht.
  • Statt der nicht-reflexiven Pronomina stehen oft die reflexiven, also = eum, suus = eius.
  • Manche Verben werden mit einem anderen Kasus verbunden, zum Beispiel adiuvāre, iubēre, sequī, vetāre + Dat.; fruī, ūtī, fungī + Akk.
  • Anstelle eines Accusativus cum infinitivo wird gern ein quod- oder gar ein quia-Satz gesetzt (so aber bereits in der Vulgata), auch quāliter-Sätze begegnen in dieser Funktion.
  • Die Konjunktion dum wird oft statt temporalem cum verwendet.
  • Erzähltempus ist nicht mehr nur Perfekt und Praesens historicum, sondern auch das Imperfekt, ja sogar das Plusquamperfekt. Man gebraucht auch das Präsens anstelle des Futur I und das Perfekt statt Futur II.
  • Die cōnsecutiō temporum (Zeitenfolge) wird nicht mehr streng beachtet. So findet sich in Gliedsätzen oft Konjunktiv Plusquamperfekt statt Konjunktiv Imperfekt.
  • Die finale Verwendung des Infinitivs, die im klass. Latein selten und meist nur poetisch bezeugt ist, wird häufig, zum Beispiel Abiit mandūcāre für Abiit, ut ederet bzw. mandūcātum abiit.
  • Anstelle des Partizip Präsens Aktiv steht oft ein Gerundium im Ablativ, zum Beispiel loquendō für loquēns (vgl. das ital. und span. gerundio sowie das franz. gérondif).

Das Latein des Mittelalters zeichnet sich durch einen erheblich umfangreicheren Wortschatz aus, der einerseits durch lateinische Neubildungen mithilfe von Präfixen und Suffixen sowie semantische Fortbildungen bereichert wird, andererseits frei aus verschiedenen anderen zeitgenössischen Volkssprachen sowie dem Griechischen Anleihen macht. Da ein großer Teil der frühen christlichen Literatur in dieser Sprache verfasst worden und auch in der lateinischen Bibelübersetzung mancher griechische Ausdruck beibehalten worden war, war griechisches Wortmaterial bereits in der Spätantike in erheblichem Umfang in die lateinische Sprache aufgenommen worden. Wenn man sich auch von den griechischen Sprachkenntnissen der meisten mittelalterlichen Gelehrten keine übertriebenen Vorstellungen machen darf, so waren sie doch in der Lage, anhand griechisch-lateinischer Glossare oder Bilinguen weitere Neubildungen vorzunehmen.

Eine weitere Quelle waren die Sprachen der germanischen Völker, die in Mitteleuropa die Nachfolge der Römer antraten.

Weiterhin wurden viele klassische lateinische Vokabeln, die nicht mehr im Gebrauch waren, durch Wortneubildungen auf der Basis des Vulgärlateins und der germanischen Sprachen ersetzt.

Beispiele

  • Allzu kurze Wörter werden durch längere (und oft regelmäßigere) ersetzt, zum Beispiel īre durch vadere, ferre durch portāre, flēre durch plōrāre, equus durch caballus, ōs durch bucca und rēs durch causa;
  • Besonders oft verdrängen sogenannte Intensiva auf -tāre das zugrunde liegende Verb, zum Beispiel adiutāre statt adiuvāre, cantāre statt canere und nātāre statt nāre.
  • Oft bekommen aus der Antike übernommene Wörter neue Bedeutungen: breve der Brief, die Urkunde, convertere und convertī ins Kloster gehen, corpus die Hostie, plēbs die (christliche) Gemeinde, homō der Untergebene, comes der Graf (vgl. franz. comte, ital. conte), dux der Herzog (vgl. franz. duc), nōbilis der Freie, advocātus der Vogt.
  • Es werden auch zahlreiche neue Wörter geschaffen oder entlehnt: bannus (zu dt. Bann) die Gerichtsbarkeit, lēgista der Jurist, camis(i)a das Hemd; vgl. den Titel De ente et essentia.

Mittellateinische Literatur

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Literaturgattungen

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Die mittellateinischen Schriftsteller und Dichter trachteten danach, eine Literatur hervorzubringen, deren Blick weniger auf die Antike als vielmehr auf die Gegenwart mit all ihren tiefgreifenden sozialen, kulturellen und politischen Umwälzungen gerichtet war. Die literarischen Gattungen, die gepflegt wurden, sind zahllos. Zu den traditionellen Gattungen (wie Geschichtsschreibung, Biografie, Brief, Epos, Lehrgedicht, Lyrik, Satire und Fabel) kommen neue hinzu, wie die Heiligenlegende, der Translationsbericht, die Mirakelsammlung, der Visionsliteratur, die Homilie, das Figurengedicht, der Hymnus und die Sequenz, die Rätseldichtung.

Eine große Bedeutung kam natürlich der religiösen Literatur zu. Sie umfasst sowohl Prosa als auch poetische Werke und hatte teils ein breiteres Publikum, teils die gebildeten Eliten als Zielpublikum. An eine breite Leserschaft richteten sich die populären Fassungen von Heiligenlegenden (zum Beispiel die Legenda aurea von Jacobus de Voragine), Wundergeschichten und andere Exempla (zum Beispiel die Werke von Caesarius von Heisterbach). Zum Teil wurden solche Werke schon früh in die Volkssprachen übersetzt und erreichten ihr Publikum auch auf dem Umweg über Predigten, für die sie als Materialsammlungen dienten. Theologische Traktate, Bibelkommentare und die meisten poetischen Werke hatten ihren Ort vor allem im Schulbetrieb, zum Teil auch in der Hofgesellschaft und in der Umgebung gebildeter Bischöfe.

Das antike Drama hat zunächst keine Fortsetzung erfahren, da es an die Voraussetzung der antiken Stadtkultur gebunden war und vom Christentum aufgrund seiner Verbindung mit dem heidnischen Kult abgelehnt wurde. Vereinzelt stehen die Dramen der Hrotswith von Gandersheim als kontrastimitative Auseinandersetzung mit dem Vorbild des Terenz. Weit verbreitet ist die Parodie (in der Antike nur durch wenige Beispiele vertreten). Neue Formen sind das geistliche Spiel und die vom antiken Drama ganz unabhängige Comedia.

Für die Dichtung stehen zwei grundsätzlich verschiedene Verstechniken zur Verfügung und werden nicht selten vom selben Autor wahlweise verwendet: die in der antiken Tradition weitergeführte metrische Technik, die sich an den Silbenlängen (Quantität) ausrichtet, und die aus der volkssprachigen Dichtung stammende Technik, bei der die Silbenzahl und die geregelte Abfolge der Betonungen (Akzente) den Vers strukturieren. Die metrische Dichtung steht auch stilistisch in der Tradition der antiken Dichtersprache, da ihre Beherrschung die intensive Auseinandersetzung mit klassischen Vorbildern wie Vergil und Ovid sowie den christlichen Dichtern der Spätantike voraussetzt. Überbietungsphänomene sind hier bei manchen Autoren der Verzicht auf die Synaloiphe und der Einsatz des Reims, vor allem der sogenannte leoninische Hexameter. Die Anfänge der akzentrhythmischen Technik stehen in engem Zusammenhang mit der Musik des Mittelalters, denn es handelt sich hier fast ausnahmslos um vertonte Dichtung.

Prosa und Vers werden je nach Anlass und Zielpublikum eingesetzt, weitgehend unabhängig vom Thema. Formtypen, die Prosa und Vers in unterschiedlicher Weise kombinieren, sind Opus geminum und Prosimetrum. In der Prosa setzt sich gegenüber der quantitierenden die akzentrhythmische Klausel, der Cursus, durch. Außerdem begegnet die Reimprosa.[5][6]

Die mittellateinische Literatur steht zeitlich vor der volkssprachigen Literatur und hat diese auch nachhaltig beeinflusst: Dichter wie zum Beispiel Dante Alighieri oder Francesco Petrarca in Italien, die zum Teil noch in Latein dichteten, übertrugen Inhalte und Stil auch auf ihre italienisch geschriebenen Werke.

Die germanischen Literaturen erscheinen im Licht des heute Überlieferten sogar noch unselbständiger und weisen bis ins 12. Jahrhundert fast ausschließlich aus dem Lateinischen mehr oder weniger genau übersetzte Texte auf. Die stark von der kirchlichen Mittelmeertradition abweichende germanische Volks- und Heldendichtung war nach der Einführung des Christentums zuerst nicht mehr gepflegt worden und wurde bald verboten. Trotz vieler mittelbarer Hinweise auf ihren einstigen Reichtum wurde sie nur in den seltensten Fällen für die Nachwelt gerettet – von Mönchen. Allein in England, dessen Kultur sich in den ersten Jahrhunderten nach der Konversion recht frei von Bevormundung durch kontinentale Strömungen entfaltete (6.—9. Jahrhundert), entstand bereits im frühen Mittelalter eine Buchliteratur in der Volkssprache, deren ältestes Zeugnis das Stabreimepos Beowulf ist. Ähnliche Hinterlassenschaften aus dem Frankenreich, die zeitgenössische Geschichtsschreiber erwähnen, sind verlorengegangen.

Natürlich hat umgekehrt auch die Volksdichtung stark auf die mittellateinische Literatur gewirkt. Seit etwa dem 12. Jahrhundert gibt es sogar – zum Beispiel in den Carmina Burana – zahlreiche Gedichte, die teils lateinisch, teils auf Deutsch geschrieben sind.

Ausgehend von den antiken Voraussetzungen (Illustrationen in Fachliteratur, Dichtung, Bibel) entstehen seit der karolingischen Renaissance zunehmend bebilderte Werke, deren Illustration in Einzelfällen auf den Autor selbst zurückgeführt werden kann. Literaturproduktion und Buchmalerei stehen daher in einem engen Zusammenhang.

Mittellateinische Autoren (Auswahl)

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6. Jahrhundert 7. Jahrhundert 8. Jahrhundert
9. Jahrhundert 10. Jahrhundert 11. Jahrhundert
12. Jahrhundert 13. Jahrhundert 14. Jahrhundert
  • Johann Jakob Bäbler: Beiträge zu einer Geschichte der lateinischen Grammatik im Mittelalter. Buchhandlung des Waisenhauses, Halle 1885.
  • Walter Berschin: Einleitung in die lateinische Philologie des Mittelalters (Mittellatein). Eine Vorlesung. Hrsg. von Tino Licht. Mattes, Heidelberg 2012, ISBN 978-3-86809-063-5 (Gesamteinführung).
  • Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24). Erich Schmidt, Berlin 1979, ISBN 3-503-01282-6 (Einführungswerk zur Paläographie des lateinischen Mittelalters).
  • Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. 3 Bände. Fink, München 1975–2009,
    • Band 1: Von Cassiodor bis zum Ausklang der karolingischen Erneuerung. 1975, ISBN 3-7705-1113-1 (online).
    • Band 2: Die Zwischenzeit vom Ausgang des karolingischen Zeitalters bis zur Mitte des elften Jahrhunderts. 1992, ISBN 3-7705-2614-7 (online).
    • Band 3: Vielfalt und Blüte. Von der Mitte des elften bis zum Beginn des dreizehnten Jahrhunderts. 2009, ISBN 978-3-7705-4779-1.
  • Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 2., durchgesehene Auflage. Francke, Bern 1954 (Nachschlagewerk zur Literaturgeschichte).
  • Monique Goullet, Michel Parisse: Lehrbuch des mittelalterlichen Lateins. Für Anfänger. Aus dem Französischen übertragen und bearbeitet von Helmut Schareika. Buske, Hamburg 2010, ISBN 978-3-87548-514-1 (Lehrbuch, das keine Kenntnisse des klassischen Lateins voraussetzt).
  • Gustav Gröber: Übersicht über die lateinische Litteratur von der Mitte des 6. Jahrhunderts bis 1350. In: Derselbe (Hrsg.): Grundriss der Romanischen Philologie. Band 2, Abteilung 1. Karl J. Trübner, Straßburg 1902, S. 97–432 (Nachdrucke des Beitrags: München 1963; München 1974).
  • Udo Kindermann: Einführung in die lateinische Literatur des mittelalterlichen Europa. Brepols, Turnhout 1998, ISBN 2-503-50701-8.
  • Paul Klopsch: Einführung in die mittellateinische Verslehre. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972, ISBN 3-534-05339-7.
  • Karl Langosch: Lateinisches Mittelalter. Einleitung in Sprache und Literatur. 5. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-03019-2 (Das lateinische Mittelalter), (Einführung in die Besonderheiten des mittelalterlichen Latein).
  • Elias A. Lowe: Codices Latini Antiquiores. A Paleographical Guide To Latin Manuscripts Prior To The Ninth Century. 11 Bände. Oxford 1934–1966 (Tafelwerke zur Paläographie).
  • Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. 3 Bände. München 1911–1931 (Handbuch der Altertumswissenschaft 9, 2), (Nachschlagewerk zur Literaturgeschichte). Bd. 1 (Digitalisat), Bd. 2 (Digitalisat), Bd. 3 (Digitalisat)
  • Alf Önnerfors (Hrsg.): Mittellateinische Philologie. Beiträge zur Erforschung der mittelalterlichen Latinität. Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung. Band 292).
  • Franz Steffens: Lateinische Paläographie. 2., vermehrte Auflage, Trier 1909 (125 Tafeln mit Transkription, Erläuterungen und systematischer Darstellung der Entwicklung der lateinischen Schrift; online).
  • Peter Stotz: Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters (Handbuch der Altertumswissenschaft 2, 5). 5 Bände. C.H. Beck, München 1996–2004 (unter anderem eine Sprachgeschichte und Grammatik).
  • Ludwig Traube: Vorlesungen und Abhandlungen. Band 2: Einleitung in die lateinische Philologie des Mittelalters. Herausgegeben von Paul Lehmann. Beck, München 1911 (Einführung in die mittellateinische Philologie von einem der Begründer des Universitätsfachs Mittellatein).

Ein umfassendes, vollständiges modernes Wörterbuch der mittellateinischen Sprache existiert bisher nicht. Grundlage der lexikalischen Arbeit[7] sind zunächst einmal die Wörterbücher des klassischen Latein wie der Thesaurus Linguae Latinae (bisher erschienen sind die Bände I-X 2, fasc.1-14, bis protego), Karl Ernst Georges’ ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch sowie das Oxford Latin Dictionary. Für ausschließlich mittellateinisch gebräuchliche Wörter oder Bedeutungen sind darüber hinaus heranzuziehen:

Alte umfassende und Handwörterbücher
Moderne Handwörterbücher
  • Albert Blaise: Lexicon latinitatis Medii Aevi, praesertim ad res ecclesiasticas investigendas pertinens, CC Cont.med., Turnhout 1975.
  • Albert Blaise: Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, Turnhout 1954.
  • Albert Sleumer: Kirchenlateinisches Wörterbuch, Limburg/Lahn: Steffen 1926; Nachdruck Olms, Hildesheim 2006.
  • Edwin Habel: Mittellateinisches Glossar. Mit einer Einführung von Heinz-Dieter Heimann. Hrsg. von Friedrich Gröbel, 2. Auflage Paderborn/München/Wien/Zürich 1959; Nachdruck (mit neuer Einführung) 1989 (= Uni-Taschenbücher, 1551).
  • Friedrich A. Heinichen: Lateinisch-Deutsch zu den klassischen und ausgewählten mittelalterlichen Autoren. Stuttgart 1978 (mehrere Nachdrucke, zum Beispiel als Pons-Globalwörterbuch).
Jüngere umfassendere Wörterbücher
  • Otto Prinz, Johannes Schneider u. a. (Hrsg.): Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. Beck, München 1954ff. (in Erarbeitung, soll den Wortgebrauch bis Ende 13. Jahrhundert erfassen).
  • Franz Blatt (Hrsg.): Novum Glossarium mediae latinitatis ab anno DCCC usque ad annum MCC, Kopenhagen 1957ff. (in Erarbeitung, beginnt mit „L“).
  • Jan Frederik Niermeyer: Mediae latinitatis lexicon minus (Lexique latin médiéval – Medieval Latin Dictionary – Mittellateinisches Wörterbuch). Hrsg. von Co van de Kieft, Leiden [1954-]1976, Neudruck ebd. 2002 (nur wenige Quellenangaben).
Speziellere Wörterbücher und Wortlisten
  • J. W. Fuchs, Olga Weijers (Ggg.): Lexicon latinitatis Nederlandicae Medii Aevi, Leiden 1977ff. (in Erarbeitung, bisher A bis Stu).
  • R[onald] E[dward] Latham: Revised medieval Latin wordlist from British and Irish sources., London 1965; Neudrucke ebenda 1965, 1973 und öfter.
  • R.E. Latham: Dictionary of Medieval Latin from British Sources, London 1975ff.
  • Lexicon mediae et infimae latinitatis Polonorum, Warschau 1953ff. (in Erarbeitung, bisher A bis Q).
  • Latinitatis Medii Aevi lexicon Bohemorum, Prag 1977ff.
  • Mittellateinisches Jahrbuch. Begründet von Karl Langosch, zurzeit herausgegeben von Carmen Cardelle (et al.), Stuttgart 1964ff.
  • The Journal of Medieval Latin. Herausgegeben im Auftrag der North American Association of Medieval Latin, Turnhout 1991ff.

Einzelnachweise

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  1. Horst Kusch: Einführung in das lateinische Mittelalter, Bd. 1: Dichtung. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1957, S. XXV.
  2. Dazu beispielhaft: Rupprecht Rohr: Das Schicksal der betonten lateinischen Vokale in der Provincia Lugdunensis Tertia, der späteren Kirchenprovinz Tours. Duncker & Humblot, Berlin 1963.
  3. Vgl. Peter Stotz: Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, Bd. 3: Lautlehre. C.H. Beck, München 1996 (siehe Literatur).
  4. J. F. Niermeyer, Mediae Latinitatis Lexicon Minus, S. 509 (rechte Spalte) u. 1051 (linke Spalte)
  5. Vgl. Karl Polheim: Die lateinische Reimprosa, Berlin 1925
  6. Henrike Lähnemann: Reimprosa und Mischsprache bei Williram von Ebersberg. Mit einer kommentierten Ausgabe und Übersetzung seiner 'Aurelius-Vita'. In: Deutsche Texte der Salierzeit – Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert, hg. von Stephan Müller und Jens Schneider, München 2010 (Mittelalter Studien 20), S. 205–237 (Open Acces Preprint).
  7. Vgl. Teja Erb: Geschichte, Konzepte und Perspektiven der mittellateinischen Lexikographie im deutschen Sprachraum. In: Das Altertum. Band 47, 2002, S. 13–35.